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Fluchten aus Belzec-Transportzügen

Letztes Update 9. August 2006





Dieses Thema ist bisher noch nicht in angemessenem Umfang beschrieben worden. Man kann die Fluchten als häufig auftretende Form von jüdischem Widerstand während der Aktion Reinhard ansehen.
Als die Deportationen nach Belzec begannen, glaubten die meisten Juden, dass die Züge sie wirklich in die Ukraine zur Arbeit brächten. Sogar nachdem die ersten Flüchtlinge von Zügen oder direkt aus dem Lager Belzec in die Ghettos zurück kamen und von ihren Erlebnissen berichteten (z.B. Lejb Wolsztejn aus dem Ghetto Zamosc, Mina Astman aus Zolkiew oder drei unbekannte Jungen, die im März 1942 ins Ghetto Lublin zurück kamen), konnten die Juden nicht glauben, dass es möglich war, Tausende von Menschen in so kurzer Zeit umzubringen. Erst nach einigen Monaten, als die Transporte weiter gingen und öfter stattfanden, begannen die Juden über Rettungsmöglichkeiten nachzudenken. Manche versuchten, sich in Ghetto-Bunkern zu verstecken, andere versuchten, aus den Ghettos zu fliehen und auf der "arischen" Seite zu überleben. Diejenigen, die bereits in einem Transportzug waren, konnten ihr Leben nur noch durch Abspringen während der Fahrt retten. Im Herbst und Winter 1942 versuchten Hunderte, die Züge nach Belzec durch Abspringen zu verlassen. Noch heute (2004) erinnern sich alte Leute, die an der Bahnstrecke Lublin - Belzec lebten, an die "Springer". Die meisten "Springer" wurden vom SS-Begleitpersonal erschossen, andere starben beim Aufprall. Schwerverletzte blieben oft tagelang in der Nähe der Bahnstrecke liegen, weil Polen oder Ukrainer Angst hatten ihnen zu helfen. Andere wurden schließlich von Polizeipatroullien gefunden und erschossen. Manch ein "Springer" wurde von örtlichen Kollaborateuren verraten. Letztlich überlebten nur wenige "Springer".
Sogar wenn die Züge das Dorf Belzec bereits erreicht hatten, sprangen noch Leute aus den Waggons. Im Herbst 1942 ereignete sich ein bekannter Vorfall: Eine Gruppe Deportierter durchbrach die Wand eines Waggons und sprang ab, als sich der Zug gerade zwischen den Häusern des Dorfes Belzec befand. Schnell organisierten die SS des Lagers Belzec und deutsche Polizisten aus Tomaszow Lubelski die Jagd auf die Flüchtigen. Viele geflohene Juden dieser Gruppe wurden vor den Augen der Dorfbewohner erschossen. Ob irgend jemand diesen Fluchtversuch überlebt hat, ist nicht bekannt.
Auch von Deportationszügen nach Sobibor und Treblinka sind Juden abgesprungen.

Hier Auszüge aus Erinnerungen von Juden, die überlebt haben, weil sie von Zügen abgesprungen sind, und ein Bericht von jemandem, der "Springer" beobachtet hat.

Bericht von Mila Szternzys:

"Die Massenumsiedlungen von Juden begannen 1942. Am 18. Oktober 1942 befahlen die Deutschen allen Juden, nach Izbica zu marschieren. Von Zolkiewka aus liefen wir 5 Stunden nach Izbica. Vor dem Kino versammelten wir uns. Dann wurden wir entsprechend unserer Wohnorte eingeteilt (Zamosc, Zolkiewka, Turobin, Krasnystaw, Piaski)...
Ich erinnere mich daran, dass es an dem Tag sehr kalt und regnerisch war. Später befahlen uns die Deutschen, zum Zug zu gehen. Sie ordneten an: 'Die Einwohner von Zolkiewka müssen nun zum Zug gehen!' Die ganze Gruppe rannte zum Zug, aber dann änderten die Deutschen den Befehl und schickten eine andere Gruppe. So wurden wir bis zum Abend gequält. In der Zwischenzeit schossen sie auf uns. Ich erinnere mich an getötete Opfer, Regen, Blut, Weinen und Schreie. Das war, als der Rabbi Feldhendler und seine Frau und Tochter ermordet wurden.
Meine Familie und ich gingen zum Zug. Da waren Waggons für Vieh, und auf dem Boden war Chlor. Die Luft war erstickend und wir waren im Waggon zusammen gedrängt. Einige Leute starben, einige waren schon tot. Wir standen auf ihren Körpern und das Chlor brannte in den Augen. Wir hatten kein Essen oder Wasser. Ich stand nahe der Wand. Durch ein Loch in der Wand konnte ich einen Löffel Regenwasser sammeln und etwas davon trinken. Ich konnte einen Brief schreiben an unseren Nachbarn aus Zolkiewka), Herrn Krol. Den Brief warf ich aus dem Zug.
Nach drei Stunden fuhr der Zug in Richtung Belzec. Wir wussten genau, wo wir hinfuhren. Die Männer rissen das Gitter aus dem Fenster. Leute begannen, vom Zug abzuspringen. Mein Bruder war schon abgesprungen, und meine Mutter sagte zu mir: 'Spring hinaus, mein Kind. Du hast so viele Freundinnen. Sie werden Dir helfen.'
Nach dem zweiten Bahnhof (Zawada) sprang ich ab. Ich war froh, in einem Graben gelandet zu sein. Andere hatten weniger Glück - sie sprangen direkt vor den nächsten Zug oder wurden manchmal von deutschen Kugeln getroffen (die Deutschen schossen nämlich auf uns). Mich traf eine Kugel im Oberschenkel, doch ich merkte nichts davon. Ich hatte beide Beine verstaucht und konnte nicht gehen. Glücklicherweise fand mich ein großherziger Mann, Marcin Szewc, der mit einem Pferdewagen angefahren kam. Als er mich fragte, was geschehen sei, log ich ihm vor, dass ich eine Polin sei und die Deutschen mich nach Deutschland zur Zwangsarbeit schicken wollten, ich ihnen aber entkommen sei. Herr Szewc nahm meine Hände, lud mich auf den Wagen und brachte mich in sein Haus.
"

Die Verfasserin dieses Berichtes verlor in Belzec ihre Eltern Szmul Frydrych (geboren 1899) und Pesa Frydrych (geboren 1898), ihre Schwester Ruchla (geboren 1928) und ihren Bruder Abram Frydrych (geboren 1935). Obwohl Marcin Szewc bald bemerkte, dass Mila Frydrych-Szternzys jüdisch war, half er ihr gesund zu werden. Nachdem sie sich erholt hatte, brachte er sie heimlich in ein Dorf in der Nähe von Zolkiewka, wo sie den Krieg überlebt hat. Im Jahre 2004 lebt sie in Brasilien.

Bericht von Franciszek Wloch (Yad Vashem Archives, 03/1132):

Rawa Ruska
Rawa Ruska
"Zu Beginn der Deportationen nach Belzec hatten die Leute noch Wertsachen, die sie durch die Waggonfenster nach draußen reichten und bei Bahnhofsangestellten gegen Wasser eintauschten. Es war möglich, durch die Fenster mit diesen Leuten zu sprechen. Die Juden, die auf dem Bahnhof arbeiteten, warnten sie, dass 22 km entfernt ein Vernichtungslager war. Die Leute im Zug glaubten das nicht, lachten sie aus und erzählten ihnen, dass die Deutschen sie zur Arbeit brächten...
Einige Monate später trafen Transporte in viel schlechterem Zustand ein. Die Fenster waren nun mit Stacheldraht verschlossen und es gab Wachen nicht nur am Ende des Zuges sondern auch am Anfang, gleich hinter der Lokomotive. Es gab auch Transporte mit Chlor auf den Fußböden der Viehwaggons. Im Winter waren die Leute nackt und sahen aus wie Skelette. In leeren Viehwaggons, die durch Rawa Ruska zurück fuhren, fanden wir heraus geschnittene Löcher, durch die die Leute ihre Kinder hinaus geworfen hatten oder selbst versucht hatten, abzuspringen. Einige, oder sogar Dutzende Körper dieser verzweifelten Menschen wurden täglich an der Bahnlinie gefunden. Die gesamte Strecke war auch mit Teilen von Geldscheinen und Wertsachen bedeckt. Manchmal konnte auch jemand erfolgreich abspringen. Nackte Menschen starben hauptsächlich an der Kälte.
Rawa Ruska Bahnhof
Rawa Ruska Bahnhof
Ich weiß von keinem Fall, in dem die örtliche Bevölkerung, Polen oder Ukrainer, diese Flüchtlinge gerettet hat. Die Dorfbewohner halfen nur, indem sie den Menschen etwas Brot gegeben haben. Die Deutschen hatten Befehl gegeben, dass jeder, der nackte Leute traf, dies zu melden hatte.
"

Franciszek Wloch war ein Pole, der während des Krieges in Rawa Ruska lebte, 22 km entfernt von Belzec. Rawa Ruska war einer der letzten Bahnhöfe, auf dem die Transporte nach Belzec (und ab Anfang 1943 nach Sobibor) Halt machten. Wloch arbeitete auf dem Bahnhof in Rawa und konnte deshalb die Transporte beobachten. 1943 traf er die Jüdin Maria Korman, die von einem Transport entkommen war, und rettete sie. Nach dem Krieg heiratete er sie. Beide emigrierten 1957 nach Israel.

Bericht von Janett Margolies:

Auf der Straße des Todes
"Am 8. November 1942, als ich damit beschäftigt war, meine Sachen nach einem anderen Haus zu bringen, bemerkte ich eine plötzliche Panik und Schüsse. Es musste eine "Aktion" sein. Ich rannte in ein anderes Haus und versteckte mich mich mit anderen Nachbarn im Keller, wo es ein besonderes Versteck gab...
Nach einer kurzen Zeit drangen die Deutschen ein und jagten uns, zusammen mit der jüdischen Polizei, aus dem Keller hinaus. Ringe, Uhren und Geld wurden uns abgenommen. 'Das wird nicht mehr gebraucht'. Ich wurde schwer geschlagen und fand mich nahe der Kazimierowska Straße wieder.
Dort waren schon viele Leute versammelt. Mehr und mehr Menschen wurden ständig dorthin gebracht. Leichen lagen auf den Straßen. Immerzu hörte man Schüsse. Die Gestapo-Männer, befehligt von Miller (Müller ?), waren in der Weizenmühle in der Baron-Hirsch Straße. In einem kleinen Teil der Mühle waren 1.000 Leute zusammen gepfercht, einer neben dem anderen.
Plötzlich wurde uns befohlen, uns hinzusetzen, was aber natürlich nicht möglich war. Als jedoch einige mit Gewehrkolben geschlagen wurden und das Blut zu fließen begann, fielen alle auf den Boden, einer über den anderen. Diese Lage war unerträglich. Die Wachmänner schlugen weiter. Tote und Lebende lagen durcheinander. Leute saßen auf Toten und gingen über sie hinüber. Die Wachmänner wechselten sich ab, weil sie die verbrauchte Luft nicht ertrugen.
Wir wurden gezwungen, für zwei Tage so sitzen zu bleiben, ohne Wasser und Essen. Währenddessen holten die Mitglieder des Judenrates ihre Freunde heraus und ersetzten sie durch andere Opfer. Die Anzahl hatte gleich zu bleiben.
Am Ende des zweiten Tages wurden wir auf die Straße hinaus gebracht, in Zehnergruppen eingeteilt und zum Bahnhof gebracht. Ich verabschiedete mich von den bekannten Straßen und dem Friedhof. Ich beeilte mich, schnell zu gehen, damit ich nicht auf den Kopf geschlagen würde. Wir waren eng umringt von der jüdischen und ukrainischen Polizei, der Gestapo und der SS, angeführt von Miller (Müller ?) selbst. Die Christen standen auf dem Bürgersteig und blickten gespannt auf die marschierende Menge. Ihre Blicke waren gleichgültig, oft lächelten sie sogar...
Auf dem Marsch kam ein Polizist zu mir und flüsterte mir zu, dass ich mich den jüngeren Frauen im Waggon anschließen solle. Als wir auf dem Bahnhof ankamen, wurden die Männer separiert und wir zu den Waggons gestoßen. Ich sah, wo man die Jüngeren sammelte, und schloss mich ihnen im selben Waggon an, der geschlossen und abgedichtet war.

Ein Sprung ins Leben
Wir waren 80 Frauen. Die kleinen Fenster waren hoch oben, mit Gittern und Stacheldraht. Im Waggon erfuhren wir, dass jemand eine Feile mitgebracht hatte, um die Gitter durchzufeilen. Ich brachte eine Gruppe zusammen. Wir kletterten aufeinander und begannen mit der Arbeit. Als wir die Gitter durchgefeilt hatten, kroch jede durch das Fenster. Zuerst die Füße, dann mit beiden Händen fest gehalten, dann nur noch mit einer Hand, dann mit einem möglichst großen Schwung in Fahrtrichtung abgesprungen.
Ich sah mir das Abspringen an. Die meisten wurden auf der Stelle getötet. Einige wurden von entgegen kommenden Zügen getötet, andere wurden von Gestapo-Männern erschossen. Die Erfolgreichen wurden später von speziellen Aufpassern der Bahn erwischt. Von allen "Springern" des Tarnopol-Zuges war ich die einzige Überlebende, denke ich.
Es dauerte eine ganze Weile zu entscheiden, ob ich springen sollte oder nicht. Ich war mir voll bewusst, wie hoffnungslos die Situation war... Ich beschloss zu springen. Schon außen am Waggon hängend, verhakte ich mich im Stacheldraht. In Panik schrie ich laut, als ich fühlte, dass ich hinunter fiel. Ein Schuss war über meinem Kopf zu hören. Es war ein Wachmann. Glücklicherweise verfehlte er sein Ziel. Im selben Moment sah ich einen Zug direkt auf mich zukommen. Mit letzter Kraft rollte ich mich hinunter, in eine Vertiefung. Das dauerte alles nur wenige Sekunden. Ich war gerettet, aber schwer verletzt. Mein Kopf und meine Hände bluteten. Ich rupfte etwas gefrorenes Gras heraus, bedeckte damit meine Wunden und konnte die Blutungen stoppen. Später wischte ich mir das Blut aus dem Gesicht und richtete mich einigermaßen zurecht.
"

Janett Margolies, eine Jüdin aus Tarnopol (Ost-Galizien), überlebte den Krieg. Von 1941 bis zum 8. November 1942 war sie im Ghetto Tarnopol, wo sie mehrere "Aktionen" überlebte.
Am 8. November 1942 wurden etwa 2.400 Juden aus Tarnopol nach Belzec deportiert. Als die Deutschen die Stadt einnahmen, lebten dort etwa 18.000 Juden. Die erste Deportation nach Belzec fand am 31. August 1942 statt. Etwa 5.000 Menschen wurden deportiert. Nur eine kleine Gruppe Männer wurde selektiert und nach dem Arbeitslager Janowska in Ghetto Lviv (Lwow) deportiert.
Schon vor dieser ersten Deportation wurden hunderte Juden bei Pogromen oder Massenerschießungen ermordet. Die Juden von Tarnopol erhielten schon früh Informationen über das Geschehen in Belzec. Ghettobewohner empfingen z.B. Briefe aus Lviv, in denen über das Schicksal ihrer Verwandten berichtet wurde.
Die nächsten Deportationen von Tarnopol nach Belzec fanden am 30. September und 5. Oktober 1942 statt. 1.200 Juden wurden nach Belzec gebracht. Die letzte Deportation war am 8. Dezember, als 1.400 Juden nach belzec abtransportiert wurden.

Die Erinnerungen von Janett Margolies wurden unter dem Titel "Between Cruelty and Death" in "Alliance for Murder. The Nazi-Ukrainian Nationalist Partnership in Genocide." publiziert.
Das Ghetto Tarnopol existierte bis 23. Juni 1943. Der Chef der örtlichen Gestapo, SS-Sturmbannführer Hermann Müller, war verantwortlich für die Morde an den Juden von Tarnopol und im Landkreis Brzezany. 1966 wurde er in Stuttgart zu lebenslanger Haft verurteilt.

Bericht von Yakov Gurfein:

Rawa Ruska
Yakov Gurfein 1961
"Eines Morgens, Mitte Januar 1943, weckten sie uns auf. Wir sahen, dass wir von SS-Männern umringt waren, die rings um das Ghetto postiert waren. Wir mussten uns in einer Reihe im Hof aufstellen und durften nur eine Decke mitnehmen. Dann brachte man uns vom Ghetto Sanok nach dem Lager Zaslaw. Dort wurden wir für drei Tage und zwei Nächte in eine Halle gesperrt. Man gab uns nichts zu trinken oder zu essen. Man erlaubte uns nicht, hinaus zu gehen für unsere notwendigen Geschäfte. So mussten wir die Notdurft in der Halle verrichten, vor den Augen der anderen. Vor Frauen, Kindern und Männern.
Am Freitagmorgen lud man uns in 10 Eisenbahnwagen. SS-Männer mit Hunden zwangen uns, die Waggons zu besteigen. Wir leisteten keinen Widerstand und kletterten hinein. Wir hatten keine Kraft mehr. Wir wollten alles ganz schnell hinter uns bringen. Nach so langer Zeit hatten wir keine Widerstandskraft mehr.
Wir waren 1.300 Seelen. Und wir waren glücklich. Ich zählte die Leute im Waggon: 103. Es war ein französischer Güterwagen mit einem Schild an der Tür: 8 Pferde oder 40 Leute. Ich konnte französisch.
Als sie uns in den Waggon eingepfercht hatten, gab es nicht genug Platz zum Stehen oder Sitzen. Einige Leute saßen auf dem Boden, andere standen. Jede Stunde wechselten wir unsere Position. Wir erleichterten uns in einer Ecke des Waggons. Frauen, Kinder und alte Leute waren alle zusammen.
Sie schlossen die Tür. Die Fenster waren schon verschlossen worden und mit Stacheldraht gesichert. Ich war in dem Waggon von Freitag Morgen bis 2 Uhr am nächsten Morgen. Sie gaben uns weder Essen noch Trinken. Sie erlaubten nicht einmal, Schnee in den Waggon zu holen. Wir wollten unseren Durst mit Schnee löschen, doch selbst das verboten sie. Sie schossen in den Waggon, weil jemand etwas Schnee hinein gebracht hatte.

Der Zug fuhr bis zum Mittag. Durch eine Öffnung im Fenster konnten wir sehen, dass der Zug in Richtung Przemysl fuhr. Danach Richtung Jaroslaw. Wir wussten, dass sie die Juden aus der Umgebung in Belzec* umbrachten. Wir beschlossen aus dem Zug zu flüchten, wenn dieser nach rechts abbiegen sollte, in Richtung Rawa Ruska. Nach rechts ging es Richtung Belzec, nach links Richtung Krakau. Wir hatten nur noch die winzige Hoffnung, dass sie uns vielleicht nach Plaszow fahren würden, einem Arbeitslager bei Krakau...
Zu der Zeit glaubte ich nicht an ein Programm zur Vernichtung der Juden obwohl ich Berichte von Belzec gehört hatte. Wir erhielten Berichte, doch trotzdem flackerte ein Fünkchen Hoffnung in unseren Herzen. Wir hofften, dass vielleicht trotzdem ein Wunder geschehen könnte. Sie versprachen jeden Tag, die Deportationen und die Vernichtung zu beenden.
Als wir bemerkten, dass der Zug in Richtung Rawa Ruska bzw. Belzec* abbog, wurde ein ein Funke entzündet. Wir konnten das Fenster frei machen, und einige Leute sprangen aus dem Zug. Wir sahen jemanden springen und das entzündete einen Funken in den Leuten, sich zu retten. Jedesmal, wenn jemand sprang, hörten wir Schüsse. Auf jedem Wagon war ein SS-Mann mit einem Maschinengewehr. Um ca. 2 Uhr morgens, hinter Jaroslaw, forderte mich meine Mutter auf hinaus zu klettern und zu springen. Ich sprang ab. Wie ich schon sagte, wollten wir schnell sterben. Trotzdem gab es so etwas wie eine Eingebung. Ich wäre nicht gesprungen, wenn meine Mutter mich nicht gewaltsam angestoßen hätte. Ich ließ meine Mutter und meinen Bruder im Waggon zurück. Ich versteckte mich im Schnee. Sie hielten den Zug an und schossen in meine Richtung. Ich kroch zur anderen Seite des Gleises und verbarg mich im Schnee. Für zwei Stunden blieb ich im Schnee, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Danach sah ich meine Mutter nicht wieder, auch keine anderen Familienmitglieder.
"

* Die Deportierten konnten nicht wissen, dass das Vernichtungslager Belzec bereits aufgelöst worden war und die Züge nun woanders hin fuhren (wohl über Izbica nach Sobibor).
Der Bericht basiert auf Unterlagen aus dem Prozess gegen Adolf Eichmann.

Bericht von Ruta Wermuth:

Ruta Wermuth
Ruta Wermuth
"Im September 1942 wurde der gesamten Bevölkerung des Ghettos in Kolomyja befohlen, sich auf dem Hof des Judenrates zur Registrierung zu versammeln. Etwa 5.000 Leute fanden sich ein. In der normalen Art und Weise, wie die Deutschen vorgingen, selektierten sie etwa 300 Leute und schickten sie nach rechts, was Leben bedeutete. Alle anderen wurden Richtung Bahnhof getrieben, flankiert von ukrainischen Truppen und SS-Männern mit abgerichteten Hunden.

... Die Kolonne bewegte sich langsam nach dem Bahnhof. Abgesehen vom Geräusch tausender Füße war es verblüffend leise. Von Zeit zu Zeit weinte ein Kind, schnell beruht von der Mutter. Es waren nur wenige Kinder und ältere Menschen dabei. Die jüngsten und ältesten Ghettobewohner waren schon früher gestorben. Das Ghetto war im Frühling geschlosen worden, und Terror, Hunger, und Krankheiten forderten unaufhörlich Opfer.

... Es war ein langer Weg zum Bahnhof, der am Stadtrand lag. Wir warteten vergeblich auf ein Wunder... Wir kamen am Bahnhof an, wurden aber zur Rampe weiter getrieben. Dort wartete ein langer Zug mit vielen Güterwagen. Die Türen waren schon offen, bereit zum Einladen. Es roch nach Chlor, das reichlich in den Waggons verteilt worden war. Bis hierhin war die Menge folgsam, doch nun, im Angesicht der Waggons, zögerte man. Dann, mit einem letzten Schrei der Verzweiflung, brachen alle aus und verstreuten sich. Schrie ich auch? Wenn ja, dann unbewusst, den Ängsten der anderen folgend.
Plötzlich hörten wir Schießen. Ein weiterer Trupp ukrainischen Militärs rannte nach der Rampe. Wie auch die Gestapo, trugen sie lange Peitschen. SS und Ukrainer griffen die Menge an, die vor Furcht auseinander stob. Der Albtraum begann.
Bellende Hunde, knallende Peitschen, die kehligen Befehle der Deutschen und die gewöhnlichen Schreie der Ukrainer: 'Vorwärts, los, los, schnell, schnell!' und 'Geht weiter, ihr verdammten jüdischen Schweine!' Die schreienden Stimmen vereinten sich zu einem einzigen Gebrüll. Um nicht von Schlägen getroffen zu werden, halfen sich die Leute und kletterten schnell die hohen Stufen der Waggons hoch, in die vermeintliche Sicherheit des Innenraumes. Welle auf Welle, angetrieben, beleidigt und verflucht, füllte schnell die Waggons. Als die Waggons schon so voll waren, dass es unmöglich erschien, noch mehr zusammen zu zwängen, kletterte ein betrunkener Ukrainer in einen Waggon, schwang die Peitsche und schoss in alle Richtungen. Die Menschen in seiner Nähe drängten sich daraufhin noch weiter in den Wagen, um der Peitsche zu entgehen. In den so geschaffenen Raum wurde nun noch eine weitere Gruppe gezwängt, unter Schreien und Schießen. Diese Methode zur Befüllung der Wagen wurde schon lange angewendet.
... Das Geschrei und Gebrüll hörte nicht auf bis zum späten Nachmittag, als sich der Zug endlich in Bewegung setzte. Wohin? Es gab keinen Zweifel - zweifellos zum Tode.
Ich war mit meinen Eltern zusammen in einem Waggon. Wir waren noch zusammen. Meine Eltern dankten Gott möglicherweise, dass ich öfter das Bewusstsein verlor, denn das, was sich im Waggon abspielte, übertraf die lebhafteste Vorstellung von Fegefeuer.
Wie lange dauerete es? Stunden? Eine Ewigkeit?
Wann immer ich das Bewußtsein wieder erlangte, war ich immer noch da - in der Hölle. In einem Waggon, der kaum 50 oder 60 Menschen aufnehmen konnte, waren etwa 200 zusammen gepackt... Weinen, Gestank und der beißende Geruch von Chlor...
Durch die Schreie und das Dröhnen der Räder konnten wir Schüsse hören. In einem Moment des Bewusstseins bemerkte ich, dass wir nackt waren, an die Wand des Waggons gepresst. Mit ihren untergehakten Armen hatten meine Eltern einen gewissen Schutzraum gebildet. Deswegen war ich noch am Leben. Ich sah, dass jeder nackt war, obwohl ich mich erinnern konnte, dass wir alle den Wagen bekleidet betreten hatten. Es war so heiss, dass Leute sich inmitten der Menge ausgezogen hatten. Die, die in der Mitte standen, waren möglicherweise schon tot, konnten aber nicht umfallen.
Plötzlich spürte ich einen Hauch frischer Luft. Jetzt war mehr Platz um uns herum. Meine Mutter flüsterte in mein Ohr: 'Hörst Du, meine Liebe? Wenn Du verstehst was ich sage, nicke nur. Einige junge Leute konnten ein Loch in die Wand machen. Sie springen ab, einer nach dem anderen. Wir haben beschlossen, es auch zu tun. Zuerst wird Papa springen, dann du, zum Schluss ich. Der Zug fährt jetzt durch den Wald. Es ist Nacht. Wenn Du es schaffst, verstecke dich im Wald. Hab' keine Angst. Wir werden dich hinterher finden...' Ich nickte, hatte es verstanden. Bevor ich merkte, was geschah, nahmen mich starke Arme hoch und schoben mich durch ein kleines Loch aus dem Waggon. Für einen Moment hing ich, an den Achseln noch fest gehalten, geschockt von einem Schwall Frischluft. Ich kam zu Bewusstsein, aber nicht lange. Die Arme, die mich gehalten hatten, öffneten sich und ich fiel in einen dunklen Abgrund...
"

Quellen:
Alliance for Murder. The Nazi-Ukrainian Nationalist Partnership in Genocide. Ed. by B. F. Sabrin. New York 1991
Thomas Sandkühler: "Endlösung" in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941-1944. Bonn 1996.
Transcript of the trial of Adolf Eichmann, Session 21; 1 May 1961. (District Court Sessions, Volume I)
Ruta Wermuth: Spotkalam Ludzi ("I Met People"), Poznan 2002.

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