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Die Story von Regine Böhmer und Lotte Braun

Letztes Update 2. Januar 2006

Hier ist die bewegende Geschichte von Regine Böhmer und Lotte Braun, zwei Sinti-Frauen. Sie wurden am 20. Mai 1940 nach einem Zwangsarbeitslager in Belzec deportiert. Die Frauen wurden interviewt von Karin Guth.


Lotte Braun
Lotte Braun
Lotte Braun:
Ich wurde am 1. Oktober 1927 in Hamburg geboren. Mein Vater war Julius Bamberger, meine Mutter Berta Bamberger, geb. Strauss. Wir haben in der Marcusstraße gewohnt. Mein Bruder und ich gingen in die Schule. 1938 ist mein Vater verhaftet worden. Das war die "Juli-Aktion". Da sind viele von uns aber auch von den Juden verhaftet worden. Sie kamen alle ins KZ Sachsenhausen. Ich war damals 11 Jahre alt und musste dann aus der Schule raus. Meine Mutter musste dann in der Fabrik arbeiten. Und ich musste als Älteste für meine Geschwister sorgen. Deshalb konnte ich nicht mehr zur Schule gehen. Ich hab den Haushalt gemacht, gekocht und alles sonst gemacht. Wir hatten keine Probleme mit Nachbarn oder so. Mit den anderen Kindern durften wir ja nicht zusammen kommen. Denen wurde ja gesagt, dass sie mit Zigeunern nicht spielen dürfen. So waren wir eigentlich immer unter uns.
1940 bekamen wir die Nachricht aus Sachsenhausen, dass mein Vater gestorben ist. Im Mai 1940 haben sie uns nach Belzec in Polen deportiert. Bis dahin haben wir uns irgendwie so durchgeschlagen. Meine Großmutter und meine Mutter waren strenger als mein Vater. Vor meinem Vater hatten wir nicht so viel Angst wie vor der Mama. Wenn wir zu spät reinkamen, war was los. Wir mussten immer pünktlich drin sein. Wenn es sieben war abends, hat sie schon gerufen. Wir haben einen guten Vater gehabt. Der hat viel gearbeitet. Er war Schauermann im Hafen. Und trotzdem haben sie ihn 38 verhaftet. Also ging es gar nicht danach, ob man arbeitete oder nicht. Wir durften ja auch Hamburg erst gar nicht verlassen. Das Reisen war verboten. In unseren Akten war immer vermerkt, dass wir Zigeuner sind. Und weil wir angeblich nicht "arisch" sind, haben sie uns weggebracht.
Ganz früh morgens hat man uns abgeholt und zum Fruchtschuppen im Hafen gebracht.

Regine Boehmer
Regine Böhmer
Regine Böhmer: Und weißt du noch, was sie uns erzählt haben?

LB: Ja, wir kommen nach Polen und werden dort angesiedelt.

RB: Wir haben das ja geglaubt.

LB: Ja, wir haben das alle geglaubt. Mit fünf Geschwistern und meiner Mutter haben sie uns in den Fruchtschuppen gebracht.

RB: Bei uns war das genau das gleiche. Ich bin am 2. Februar 1932 in Hamburg geboren worden. Morgens um 5 haben sie uns 1940 aus unserer Wohnung am Nagelsweg in Hammerbrook geholt. Das war am 16. Mai 1940. Sie haben zu meiner Mutter gesagt, sie soll alles einpacken, was wir tragen können und sie soll uns anziehen. Sie haben gesagt, dass wir dann und dann fertig sein müssen. Wir waren acht Kinder und meine Eltern. Mein Vater war auch dabei. Mein Vater war Julius Böhmer und meine Mutter Emma Böhmer, geb. Stein.
Meine Mutter war total aufgeregt und hat nur immer gesagt "Schnell, schnell, schnell." Was sie gerade greifen konnte, hat sie eingepackt.
Als wir aus der Wohnung kamen, haben wir schon gesehen, dass von jeder Ecke Familien aus den Wohnungen kamen. Das waren Familien mit Kindern, mit den Männern, alle waren dabei. Und als wir zum Fruchtschuppen kamen, war schon alles voll. Es war furchtbar voll aber es kamen immer noch mehr. Es waren bestimmt Hunderte, die da in dieser riesigen Halle auf dem Fußboden lagen. Und jeder Familie haben sie dasselbe erzählt. Wir sollten ein Häuschen in Polen kriegen. Da sollten wir angesiedelt werden. Wie lange waren wir im Fruchtschuppen?

LB: Zwei, drei Tage.

RB: Ja, genau, zwei Tage bestimmt. Wir haben da jeder eine Nummer gekriegt. Fotografiert wurden wir nicht, aber wir bekamen alle eine Nummer und wurden registriert. Und es war furchtbar voll da. Wir mussten auf dem Boden schlafen. Jeder hat sich so eine Ecke gesucht. Ich war ja noch ziemlich klein, erst acht.

LB: Jede Familie ist abgestempelt worden. Alle Namen wurden aufgeschrieben.

RB: Wir haben dann noch was zu essen mitgekriegt. Ganz in der Nähe von dem Fruchtschuppen war der Güterbahnhof. Da mussten wir dann hin. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, die Bahnfahrt dauerte drei Tage. In jedem Abteil oder in jedem Waggon war Polizei. Die sind mitgefahren. Dann kamen wir dann in Belzec an. Von der Bahn aus mussten wir ein ganzes Stück laufen. Das war kein Lager da in Belzec. Das war ein Schuppen.

Scheune der Roma
Scheune der Roma
LB: Das war so eine Scheune. So eine Art Pferdescheune. Die war aber noch viel größer als der Schuppen im Hafen. Es war alles mit Stacheldraht eingezäunt. Wir waren ja alle ganz durcheinander und aufgeregt. Da war alles so mit Stroh auf dem Boden. Und das ging da so eine Treppe rauf. Das war so eine Zwischendecke aus Brettern. Und da mussten wir alle rein. Und hinten war auch noch was. Aber sonst war da nichts. Es war nur eine riesige Scheune. Da waren auch wieder viele Leute. Viele aus Hamburg aber auch aus Bremen, glaube ich. Wir mussten auf dem Boden auf Stroh schlafen. Toiletten gab es nicht. Waschen konnten wir uns auch nicht richtig. Nur eine Tonne mit Wasser stand da.

RB: Viele hatten Angst auf der Fahrt. Wir wussten ja nicht, was kommt, was passiert, wo uns die hinbringen. Irgendwie hat man geahnt, dass das nichts Gutes ist. Aber keiner wusste vom anderen was. Wir wussten ja nicht, was wirklich gespielt wurde. Aber die Angst war da.

LB: Am nächsten Morgen kam der Lagerkommandant raus. Wir mussten uns alle zum Appell aufstellen. Und ich weiß noch wie heute, wie er sagte "Ihr seid alle meine Gefangenen. Und wer sich traut zu flüchten, der wird erschossen, wie ein toller Hund."
Roma-Lager 2003
Roma-Lager 2003
Das ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Morgens mussten wir Appell stehen. Mit Nase und Mund lagen wir auf dem Boden. Und sein Hund lief hin und her. Der war genau so ein Teufel wie er auch. Ja, wir mussten uns flach auf den Boden legen. Dieser Lagerkommandant ist dann mit dem Hund hin und her gegangen. Und wenn jemand den Kopf hoch gehoben hat, hat der Hund zugebissen. Das war ganz furchtbar. Ich mag da gar nicht wieder dran denken. Wir haben viel mitgemacht.
Vom Lager Belzec sind wir dann nach Krychow gekommen. Von da dann nach Siedlce. Wir sind bis in die Tschechoslowakei transportiert worden. Wir sind auch durch Warschau gekommen. Da wurde mein Bruder angeschossen. Auf dem Transport, vor Warschau, ist mein Bruder, Rigo, angeschossen worden. Daran ist er gestorben. Als der Waggon irgendwann hielt, mussten wir ihn ja irgendwie beerdigen. Das war dann direkt am Gleis. Wir haben ihn in eine Decke eingewickelt und ihn dann bei den Schienen begraben. Mein Bruder war neun Jahre alt. Das war 1944. Da waren wir schon vier Jahre immer unterwegs, von einem Lager zum anderen. Schließlich sind wir bis nach Prag transportiert worden. Meine Mutter ist auch angeschossen worden. Sie war am Bein verletzt. Wie das genau passiert ist, weiß ich nicht. Wir standen da neben dem Waggon und die haben da geschossen. Meine Mutter traf ein Schuss ins Bein und meinen Bruder ins Herz. Da war ein Sanitäter. Der hat meine Mutter verbunden. Den Kleinen auch, aber es half nichts mehr. Er starb am nächsten Tag. Ich war gerade Wasser holen als er angeschossen wurde. Erst wollte ich ihn noch mitnehmen aber ich dachte, dass ich alleine schneller bin. Hätte ich ihn mitgenommen, wäre er heute vielleicht noch am Leben. Ich war 17 als das passierte.
Überall mussten auch die Kinder arbeiten. Wir mussten zum Beispiel in Siedlce Waggons mit Kohle ausladen. Da mussten Kind und Kegel arbeiten. Das war schwere Arbeit.

RB: Ich musste auch arbeiten. Und ich war erst acht.

LB: Mein kleinster Bruder war erst fünf Jahre. Sogar der musste mit uns arbeiten.

RB: Von Krychow sind viele geflüchtet. Da war das Lager nicht so bewacht. Mein Vater hat dann mit meiner Mutter besprochen, dass wir flüchten sollten. Aber sie hat gesagt "Das mache ich nicht. Die Kinder werden erschossen, wenn wir das tun. Ich hab Angst." Mein Vater hat nicht nachgelassen, denn was er wollte, das wollte er. Jedenfalls ist mein Vater mit zwei von meinen Geschwistern geflüchtet. Mit Christian und Rudolf. Christian war 15 und Rudolf 11. Er wollte zurück nach Hamburg. Er hat aber nicht daran gedacht, dass die Mutter nun allein mit uns sein würde. Mit sechs Kindern.
Mein Vater kam ganz gut durch mit meinen zwei Brüdern. Sie haben es von Polen bis nach Hamburg geschafft. Und wie er nach Hamburg kam, hatte er natürlich keine Papiere. Da hat er Bekannte getroffen und die haben ihn angeschwärzt, denunziert. Und dann wurde er wieder verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht. Das war so Ende 41. Die zwei Jungs kamen zuerst ins Heim. Christian war ja schon 15. Der kam dann nach Auschwitz und Rudolf kam in ein anderes Lager. Und dann ging das weiter. Dann kam meine Mutter weg. Sie kam zusammen mit meiner Oma weg. Sie sind von uns getrennt worden. Die beiden kamen nach Majdanek. Nun war nur noch meine älteste Schwester da, Hedwig. Sie hatte selbst schon ein Kind.
Wir mussten uns dann irgendwie durchschlagen. Ich war so neun Jahre alt. Wir hatten ja kein Obdach und waren immer unterwegs, bis uns die SS geschnappt hat und uns wieder in ein Lager gesteckt hat. Schließlich haben sie uns im Sommer 1943 nach Ravensbrück gebracht. Ich glaube, bei Krakau haben sie uns gefasst. Vater, Mutter, die Geschwister, alle waren weg. Meine Mutter hatten sie woanders hingebracht. Meine Schwester Hedwig war 22. Die musste nun für uns irgendwie sorgen. Sie hatte ja auch einen kleinen Jungen. Der war ungefähr drei Jahre alt. Mein jüngster Bruder war zwei Jahre alt. Also, die beiden waren fast gleich alt. Das waren die beiden Kleinsten. Dann kam die Erika, die wir ja heute noch suchen, denn wir haben sie verloren bei all dem. Sie war fünf Jahre alt.

LB: Als Kinder haben wir uns nicht gekannt. Wir waren zwar auf demselben Transport aber haben uns erst später kennen gelernt. Unsere Mütter haben sich gekannt.

RB: Man tat sich auch nicht so zusammen, damit man nicht so auffällt. Wenn man bei der Flucht durchkommen wollte, durften nicht so viele zusammen sein. Sobald man ein bisschen auffiel, wurde man ja erschossen. In Ravensbrück waren wir eine ganze Zeit. Meine Schwester Hedwig musste da im Steinbruch arbeiten. Und wir auch, wir mussten auch arbeiten. Ich musste schrubben und sauber machen. Da waren so lange Holztische, die mussten wir jeden Tag putzen. Es war immer Kontrolle. Nachmittags kam meine Schwester von der Arbeit. Die musste sehr schwer arbeiten. Und es gab ja fast nicht zu essen. Und nichts anzuziehen. Tiere wurden da geschlachtet, die man gar nicht essen konnte.
In Ravensbrück haben wir für acht Personen ein Brot bekommen. Damit mussten wir länger als einen ganzen Tag auskommen. Das war so eine Art Kommissbrot. Getrunken haben wir aus Blechbechern. Es gab immer Steckrübensuppe mit zwei Kartoffeln. Davon war mindestens eine immer schlecht. Wirklich immer. Für die Kinder gab es auch nicht mehr.

LB: Wo wir waren, gab es auch nie Milch für die Kinder. Was damals bei der Deportation aus Hamburg an Essen mitkam, haben sie uns gar nicht gegeben. Das hatte die Polizei in einem extra Waggon. Aber davon haben wir nichts gekriegt. An Kleidung hatten wir nur das, was wir anhatten.

RB: Als wir in Ravensbrück ankamen, hatten wir nur Lumpen an und waren vollkommen verlaust. Wir waren ja schon Jahre unterwegs gewesen. Immer woanders. Immer in einem anderen Lager oder in den Wäldern.

LB: Wir hatten an den Füssen Lappen. In Polen war es ja kalt. Die Hände konnte man kaum bewegen vor Kälte und an den Füssen hatten wir nichts, wir waren barfuß und haben uns manchmal Lappen rumgewickelt. Das Wasser, das wir hatten, war auch schlecht. Da sind die Kühe vorher durchgelaufen. Es sind ganz viele Kinder gestorben.

RB: In Ravensbrück haben sie uns als erstes die Haare geschoren. Dann mussten wir in eine Dusche und schließlich bekamen wir was anzuziehen. Das war so wie ein Sack und total hart. Und da haben wir eine Nummer drauf gekriegt, hinten auf dem Rücken und ein schräges Kreuz drauf gemalt. Der Stoff war knochenhart. Aus einem großen Berg Holzpantoffeln mussten wir uns welche raussuchen. Es war ganz egal, ob was passte oder nicht. Manche hatten einen großen und einen kleinen Schuh. Die Baracken waren total überfüllt. Wir mussten auf Holzpritschen schlafen, wo Strohsäcke drauf waren. Da drauf mussten immer vier Frauen und Mädchen schlafen. Es gab nur eiskalte Duschen und kein Handtuch. Wie haben wir da gefroren. Und immer hatten wir Hunger. Furchtbar war das. Da hab ich auch Typhus gekriegt.

LB: Uns hat die SS auch wieder gekriegt. Wir haben gedacht, wir kommen nach Auschwitz. Da wussten wir schon, dass es Auschwitz gab. Was das aber genau war, was da alles passiert, das wussten wir nicht. Aber wir haben gehört, dass es noch Schlimmeres gibt.

RB: In Ravensbrück hat man viel gehört. Da kamen ja immer Transporte von Auschwitz an. Da kamen viele Familien und wir haben immer gefragt, ob sie unsere Mutter irgendwo gesehen haben. Jeder hat immer jeden gefragt, wenn welche aus Auschwitz ankamen. Wir haben gedacht, dass unsere Mutter in Auschwitz war. Aber sie war nicht in Auschwitz, sie war in Majdanek. Das war ein ganz furchtbares Lager. Sie ist da 1945 von den Russen befreit worden.

LB: In Majdanek sind die meisten gleich erschossen worden.

RB: Wegen der vielen, die da ankamen, haben wir viel von Auschwitz gehört. So wussten wir einigermaßen Bescheid.

Anni Braun, Lottes Schwester
Anni Braun, Lottes Schwester
LB: Wir hatten oft Glück und konnten der SS oder der Polizei entwischen. Oft haben wir es gerade eben noch geschafft. Hätten sie uns damals nach Majdanek oder nach Radom geschafft, wären wir auch alle tot. Irgendwie sind wir aber durchgekommen. Nur mein kleiner Bruder nicht, der auf dem Transport angeschossen wurde und gestorben ist. Manchmal haben wir unterwegs auch welche getroffen, die wir gekannt haben. Wir sind bis Prag gekommen. 1945 waren wir in Prag im Gefängnis. Da waren wir ziemlich lange drin. Sie hatten uns eben doch mal geschnappt. Da waren Kinder und Erwachsenen im Gefängnis.

RB: Man ist bei der ganzen Flucht ja immer auch wieder geschnappt worden. Die haben einen auch gekriegt. Da konnte man froh sein, wenn sie uns nicht gleich erschossen haben.
Von Ravensbrück ging dann ein Transport nach Bergen-Belsen. Das haben sie aber nicht gesagt. Wir dachten, der Transport geht nach Auschwitz. Da wurden wir auf der Lagerstraße aufgerufen. Es hieß "So und so viele Familien mit Kindern vortreten." Und dann mussten Frauen auf die Seite und die Kinder auf die andere Seite. Und dann hieß es, dass die Kinder in die Gaskammer sollten und die Erwachsenen auf den Transport. Dann kam schließlich aber doch Bescheid, dass die Familien zusammen bleiben sollten und auf den Transport nach Bergen-Belsen kommen.

LB: Das war euer Glück.

RB: In Bergen-Belsen waren wir bis zum Schluss, bis die Befreiung kam. Bei der Befreiung waren meine Schwester Hedwig, die Älteste, Rudolf, der Kleinste, Giovanni und Erika, die wir dann verloren haben. Rudolf kam zuletzt nach Bergen-Belsen. Der war zwischendurch woanders gewesen. Er war der, der mit meinem Vater geflüchtet war und wieder in Hamburg geschnappt und noch mal weg kam. Er hat gedacht, dass wir alle tot sind. Und Peter kam auch später nach Bergen-Belsen. Christian hat uns auch in Bergen-Belsen gefunden.
In Bergen-Belsen war es ganz furchtbar. Da war ja gar kein Platz für alle, die da krank und abgemagert aus all den anderen Lagern dahin kamen. Die Baracken waren total überfüllt. Alles lag durcheinander. Und so viele waren schwer krank. Sie starben meistens an Typhus. Oder an Hunger. Mein kleiner Bruder, Giovanni, ist da gestorben. Er war sieben Jahre alt. Er war noch nicht mal zwei, als wir aus Hamburg wegkamen.

LB: Wir waren drei Familien. Das war Helene Steinbach, die Familie Bamberger, das waren wir. Ich weiss nicht mehr, wie die andere Familie hieß. Wir waren zusammen in dem Gefängnis in Prag. 1945 haben uns die Tschechen erst nicht raus gelassen. Wir haben uns selber befreit. Als der Fliegerangriff war, sind die Häftlinge alle rausgelaufen. Es war Glück, dass nicht alles zugeschlossen war. Wir sind hunderte von Kilometern gelaufen. Dann haben wir eine Transportmöglichkeit gefunden. Und dann hatten wir natürlich Angst vor den Russen. Die haben doch so viele Frauen vergewaltigt. Aber wenn wir gesagt haben, dass wir Zigeuner sind, haben sie uns laufen lassen. Irgendwie sind wir nach Spandau gekommen. Wie das kam, weiß ich gar nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass wir unendlich viel gelaufen sind. Auch die alte Frau, die Helene Steinbach. Die Füße waren ganz kaputt.
Wir haben uns immer von dem ernährt, was die Soldaten weggeschmissen haben. Da haben wir alles Mögliche zu essen gefunden.
Wie wir schließlich wieder nach Hamburg gekommen sind, kann ich gar nicht erinnern. Wir waren erst in Boitzenburg. Das weiß ich noch. Aber wie wir da hingekommen sind, das weiß ich gar nicht mehr. Da haben wir jedenfalls meine Tante gefunden. Wir haben uns ja alle gegenseitig gesucht. Bei meiner Tante bin ich dann eine ganze Zeit geblieben. Als wir wieder in Hamburg waren, haben wir alle zusammen eine Einzimmerwohnung in der Dammtorstraße, Dammtorwall gekriegt. Dann sind wir nach Eidelstedt gezogen. Dann hab ich geheiratet. Und dann ging das so weiter.

Regine Böhmer's Family
Einige Mitglieder von Regine Böhmers Familie
RB: Als die Engländer nach Bergen-Belsen kamen, war ein Drunter und Drüber im Lager. Ich weiß heute noch nicht, warum und wie ich ins Krankenhaus kam. Ich weiß nicht, wo ich da gelegen hab, wo sie mich gefunden haben. Ich hab heute noch Narben an meinem linken Arm. Die müssen von daher sein. Als ich zu mir kam, war ich im Krankenhaus. In Celle. Da kam ich überhaupt erst wieder zu Bewusstsein. Ich wusste gar nicht, wo ich war. Die müssen mich bewusstlos gefunden haben. Ich hab gleich zu dem Arzt gesagt, dass ich raus will, dass ich zu meiner Schwester will. "Nein, nein, du musst hier bleiben" hat er gesagt. Er hat so ein bisschen komisch gesprochen. Ich bin dann einfach weggelaufen. Und ich bin gelaufen, gelaufen, gelaufen und hab keinen Menschen weit und breit gesehen. 13 war ich. Auf einmal kamen da zwei Frauen. Ich hab so geweint. Ich hab solche Angst gehabt, weil ich niemanden gesehen hab. Und die Frauen haben mich gestreichelt und getröstet. Die waren so nett. Sie haben mich gefragt "Warum weinst du denn?" Und ich hab ihnen alles erzählt, dass ich im Krankenhaus war, dass ich vorher im Lager war und dass ich aus dem Krankenhaus weggelaufen bin. Ich hab ihnen gesagt, dass ich meine Schwester suche. Ich hatte ja niemanden als ich aufwachte. Ich hab zu den Frauen gesagt, dass ich wieder zurück in das Lager will. Ich hab gedacht, dass das Lager noch da ist. Und die Frauen sind mit mir zum Lager Bergen-Belsen gegangen. Aber da war niemand mehr. Es war absolut leer. Da hat mich die eine Frau gefragt, ob ich mit ihr mitkommen möchte. Und ich hab sofort "ja" gesagt.

LB: Man war ja froh über jeden, der einem geholfen hat.

RB: Und die haben mich mitgenommen. Aber erst mussten sie mit mir zum Polizeirevier. Das wollte ich natürlich nicht, weil ich Angst vor der Polizei hatte. Die Frau hat mich dann aber beschützt. Diese beiden Frauen waren Holländerinnen. Ich hab sie kaum verstanden. Auf der Polizeiwache musste ich wieder erzählen, wo ich herkam. Und immer hab ich erzählt, dass ich meine Schwester suche. Ich hatte nichts anderes im Kopf als meine Schwester zu finden. Ich hatte ja keinen Menschen. Bei der Polizei hat die Frau gesagt, dass sie mich mitnimmt. Sie hat auch so ein Schriftstück gekriegt. Das hat sie in ihre Tasche getan. Ich war dann ungefähr drei Wochen bei ihr. Ich hab mich da sauwohl gefühlt. Das war eine Familie. Und nach drei Wochen, vielleicht auch nur vierzehn Tagen, sagt die Frau, dass sie weg müssen. Sie ist dann noch mal zur Polizeiwache gegangen und hat gemeldet, dass sie mich nach Holland mitnimmt. Dann wäre ich heute nicht hier. Aber ich hatte ja keine Papiere. Also, ich durfte nicht mit. Ich kam dann ins Kinderheim. Ach, das war schlimm.

LB: Das glaube ich dir.

RB: Jedenfalls musste ich ins Kinderheim. Ich hab die Frau so vermisst. Die war ja so gut zu mir. Die hätte mich auch mitgenommen. Im Kinderheim habe ich dann meinen jüngsten Bruder, Christian, getroffen und meinen Neffen. Die waren auch im Krankenhaus vorher gewesen. Und da hab ich auch meine Schwester Erika getroffen, die damals 9 Jahre alt war. Das war das letzte Mal. Sie war furchtbar krank. Ich habe gedacht, dass meine älteste Schwester, Hedwig, tot ist. Und über den Suchdienst haben sie Hedwig gefunden. Und sie kam. Da hat sie auch ihren Mann getroffen. Ihr Mann war ja auch deportiert worden. Und da kam Hedwig mit ihrem Mann und hat mich abgeholt. Aber Erika haben wir da verloren. Wir wissen bis heute nicht, ob sie noch lebt oder ob sie gestorben ist.

LB: Das war eine schlimme Zeit.

RB: Ja, das war furchtbar. Das möchte ich nicht noch mal erleben. Ich würde sofort Tabletten nehmen.

Roma-Friedhof in Belzec 2003
Roma-Friedhof in Belzec 2003
LB: Ich würde das auch nie im Leben mehr schaffen. Es gab auch gute SS-Leute. Aber die konnte man zählen und die waren nicht lange dabei. Wiedergutmachung habe ich gekriegt. Aber irgendwie anders haben sich die Leute anfangs uns gegenüber nicht anders verhalten. Wir waren immer noch die Zigeuner. Die wir noch kannten, wo wir gewohnt haben, die waren sehr nett.
Den ganzen Satz Wiedergutmachung haben wir ja nicht gekriegt. Ich hab noch nicht mal Rente, weil ich den Stichtag nicht wusste. Was haben wir von einem Stichtag gewusst. Heute bekomme ich 175 Euro von Bonn und von der Sozialbehörde Sozialhilfe.
Als ich geheiratet habe, war ich 23 Jahre alt. Ich war 24 als mein Sohn zur Welt kam. Und mit 25 war die Ehe schon kaputt. Mit meinem späteren Lebensgefährten war ich 23 Jahre zusammen. Und das ging dann schliesslich auch nicht mehr. Das war furchtbar mit ihm. Ich bin gegangen. Wir haben uns nicht mehr verstanden. Mit ihm habe ich in Köln gewohnt.
Als ich von ihm weg gegangen bin, bin ich wieder nach Hamburg gekommen. Ja, so 1976 oder 77 hatte ich meinen Lebensgefährten kennen gelernt und bin mit ihm nach Köln gegangen. Als wir aus dem Lager zurück nach Hamburg kamen, habe ich dann Oskar Böhmer näher kennen gelernt. Und er hat auch alles für mich gemacht, dass ich vor ein paar Jahren wieder nach Hamburg kommen konnte. Im Grunde sind wir ja alle verwandt.

RB: Ich hab mit 18 geheiratet. Heute bin ich 53 Jahre verheiratet. Immer mit einem und demselben. Nach dem Krieg haben wir nicht allzu viel über alles gesprochen. Die meisten von uns hatten ja ungefähr dasselbe mitgemacht.

LB: Mein erster Mann war auch Zigeuner. Er war auch im Lager.
Ich wollte eigentlich nie wieder über alles sprechen, weil man dann wieder an alles denkt. Ich mag da gar nicht dran denken.

RB: Wenn ich im Fernsehen etwas über die KZ sehe, kann ich die ganze Nacht nicht schlafen. Da war vor kurzem wieder was im Fernsehen. Eigentlich wollte ich das gar nicht sehen aber dann war ich doch ein bisschen neugierig. Nach dem Film war ich so fertig. Ich war so fertig. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zukriegen. Dann geht man in Gedanken alles wieder so durch.

LB: Dass wir das alles überstanden haben, kann ich heute manchmal kaum fassen. Es gab nichts zu essen, kein sauberes Wasser, nichts anzuziehen. Und trotzdem haben wir es überstanden.
Wenn man alte Deutsche sieht, denkt man schon manchmal, was die wohl gemacht haben.

RB. Wenn man einen älteren Menschen sieht und er unsympathisch wirkt, denke ich gleich, ob das wohl ein Nazi war.

LB: Ist ja nicht immer gesagt.

RB: Doch, meistens sieht man das schon im Ausdruck. Es gibt aber auch viele ältere Leute, die wirklich nett sind.

LB: Die Polen waren oft nett zu uns. Die haben uns versteckt, wenn sie konnten, so dass uns die SS nicht kriegen konnte. Die haben ihr Leben riskiert. Und wir hatten immer Angst.
Heute ist es eigentlich egal. Natürlich gibt es Leute, die haben gegen alle was. Gegen die Ausländer, gegen uns. Die kehren alle über einen Kamm.

Roma-Lager 2003
Roma-Massengrab in Belzec 2003.
Das Kreuz wurde errichtet von Kazimierz Urbanski
RB: Also, ich kann sagen, egal, wo ich bin, ich hab eigentlich keine Probleme. Ich war ein paar Mal zur Kur. Da hab ich das gleich gesagt, weil die Leute doch immer gleich sagen "Sie sind doch bestimmt nicht von hier." Dann sag ich "ich bin eine Zigeunerin. Vater und Mutter waren Zigeuner. Ich bin eine echte Zigeunerin." Dann sagen sie "nein, das kann nicht sein." Ich sag dann "doch, ich bin eine Zigeunerin." Darauf bin ich auch stolz. Ich kann ja sagen, dass ich hier geboren bin und aufgewachsen. Ich hab die deutsche Staatsangehörigkeit und meine Eltern und Großeltern und alle hatten auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Leute haben das dann auch gleich akzeptiert, wenn ich das ganz offen sage. Sie haben nie schlecht über mich gesprochen. Es gab nie auch nur irgendetwas. Ich hab das auch nie verheimlicht, so dass ich immer Angst haben muss. Bei der Kur hab ich es gleich frei gesagt, damit ich nicht immer dran denken muss, ob ich es nun sagen soll oder nicht. Und sie waren alle so nett zu mir. Die Ärzte und die Schwestern. Alle. Die haben mich richtig verwöhnt. Auch in den Krankenhäusern. Ich musste ja schon oft ins Krankenhaus. Als ich einmal im Krankenhaus war, hat mir eine Frau, die mit mir im Zimmer lag, immer ihre Zeitung oder Illustrierte gegeben, damit ich auch was zum Lesen hab. Ich konnte ja nun nicht lesen und hab die Zeitung nur durchgeblättert und dann beiseite gepackt. Und eines Tages fragt sie mich, wie ich das und das gefunden habe, was da in der Zeitung stand. Da musste ich ihr ja sagen, dass ich nicht lesen kann. Und sie hat gleich gesagt "warum haben Sie mir das nicht gesagt? Ich hätte es Ihnen doch ein bisschen beibringen können." Sie war so nett. Sie war selbst von Beruf Krankenschwester und wurde dann am nächsten Tag entlassen, weil sie gesund war. Somit konnte sie mir es nicht beibringen. Das hat sie total bedauert. Ich würde ja gern noch lesen und schreiben lernen, so dass ich wenigstens meinen Namen besser schreiben kann. Ich hab es ja nicht gelernt, weil ich mit acht ins Lager kam. Und dann war ich 13 als wir zurück kamen. Wo hätte ich da in die Schule gehen sollen? So war das. Aber vielleicht lerne ich es noch.

LB: Mir sehen sie gleich an, dass ich irgendwie anders aussehe. Ich bin ja ein dunklerer Typ. Zigeunerin sagen sie ja nicht, aber Ausländerin. Mein Typ ist ausländisch. Auf Zigeuner kommen die meisten nicht.

RB: Heute sagen ja die meisten Sinti. Aber viele wissen nicht, was Sinti bedeutet. Wenn ich dann aber sage, dass ich Zigeunerin bin, verstehen sie es.

Quelle: Karin Guth, Hamburg
Dank an Struan Robertson für die englische Übersetzung.

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